Donnerstag, 28. Mai 2020

Mutlos Mut machen

Meine liebste Annika,

gerade jetzt bräuchte ich Dich. Aber Du kommst ja wieder. Welch ein tröstlicher Gedanke.
Wo ich so angefüllt bin mit Überlegungen. Die Gedanken auf der leichten Seite drehen sich um so weltbewegende Dinge wie die Frage, ob es eine Lesebrille gibt, die ich unter der Dusche tragen kann, damit ich nicht nach dem Duschen unter schwersten Verrenkungen im Waschbecken die Beine nachrasieren muss, da ich die Hälfte der Haare übersehen habe.

Auch die Überlegung, ob ich meine Tochter dazu zwingen soll, mir zu sagen, welches Arschloch ihr ein Dick-Pic geschickt hat, treibt mich auf der nicht ganz so leichten Seite um. Als ich ihr im Gespräch über „Männerwelten“ sagte, ich habe noch nicht ein einziges Mal so ein lächerliches Männergenital in Fotoform aufs Handy bekommen, schaute sie ganz erstaunt und sagte: „Echt nicht? Also ich hab schon einige.“

Da blieb mir erst einmal die Spucke weg. Meine Frage nach dem WER? wollte sie mir nicht beantworten. Aber wie kann ich sie dazu bringen, mir den Widerling zu nennen, wenn sie es partout nicht will? 
Gut, wir mussten schon auch lachen darüber, dass diejenigen, die solche Bilder verschicken, sich nicht schämen. Denn ein Penis, ich meine, jetzt mal ehrlich, ein Penis wirkt irgendwie albern. Vor allem, wenn er vom Rest des Männerkörpers getrennt daher kommt. Darüber muss ich weiter nachdenken. Nicht über Penisse ohne Rest. Sondern über meine Tochter und Penisfotos und meinen Zorn.

Und Gedanken rasen durch mich hindurch, wenn ich an die Welt als Ganzes denke. Es wächst mir fast über den Kopf, darüber zu denken. 
Ich möchte meine Haare  verzweifelt raufen, leise stöhnen und dabei suche ich in mir nach Hoffnung. Hoffnung für diese Welt.
Mir schien es fast, als gäbe es keine mehr, als ich das Video von dem Mann in Minneapolis sah, auf dessen Nacken so lange ein Polizist hockte, bis ihm das Leben genommen war. Rassismus, Polizeigewalt, dumme Leute, alles in Amerika. Ist das so?

Hanau, Halle, AFD, kehren wir in Deutschland, kehren wir vor unserer Tür. Dafür müssen wir nicht über den Teich. Dafür müssen wir nicht einmal eine Grenze queren. Rassismus, Antisemitismus, Rechtsradikalismus, das können wir selbst. Seien wir dankbar dafür, dass hier nicht Kreti und Pleti eine Knarre bekommen können.

Du siehst, das schöne Wetter schafft es einfach nicht, meine rheinische Frohnatur hochzuspülen. Denn da ruft es in mir nur lauthals KLIMAWANDEL, und ich lege meinen Kopf auf die Tischplatte.

Komm bitte bald wieder und behaupte steif und fest, dass am Ende alles gut wird.
Aber wage es Dich nicht zu behaupten, wenn nicht alles gut ist, ist es auch noch nicht das Ende. Dann schreie ich so laut, dass Du es ohne Telefon bis Berlin hörst.

Ein bisschen Mut gemacht zu bekommen, könnte mir helfen. Vielleicht könntest Du das für mich tun. Und wenn ich wieder mutig bin, dann mache ich Dir auch Mut. Wir könnten uns den Mut hin und her werfen.

Miss you, Deine Lavendel


2 Kommentare:

  1. Manchmal ist es so, dass wir ganz einfach müde werden. Aber du weißt auch wie es immer wieder auch anders wurde. Es geht uns gut, wir sind auch bei Veränderungen der Lebensbedingungen fähig zu reagieren.
    Es wird nicht alles gut, aber anders wird es sicher. Und unser Einfluss ist ziemlich klein. Das mit den Fotos, da halte ich den Typen für bescheuert, der es schickte. Und deine Tochter wird es bei der Mutter nicht sein, weil sie mit dir reden kann.

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  2. H. hatte so etwa jedes Jahr eine Schülerin, die ein Nacktganzfoto von sich verschickte. Das war nicht anonym, weil es gleich ein paar SchülerInnen mehr auf ihren Mobilteilen hatten. Aber schwierig war es schon, das zu bearbeiten.

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