Dienstag, 16. März 2021

Aber ja, aber nein, aber ja

 Liebe Businesswoman Lavendel,

"Ich gehe nicht mehr zurück." schreibst du. Bedeutet das, der Gatte muss sich trollen oder der Gatte darf bleiben, aber zu neuen Bedingungen? Bin gespannt, was am Ende hinten rauskommt (Helmut Kohl). 

Tja, wegen der Impfung: am Sonntag hat sich meine systemrelevante Schwester impfen lassen dürfen und am Montag wird Astradingsbums gestoppt. Fiebrig von den Nebenwirkungen schreibt sie mir, sie wird sowohl Spahn als auch das Paul Ehrlich Institut verklagen. 

Mir selbst graut vor der Impfung. Als Hypochonderin ist mir klar, dass ich weder eine Infektion noch eine Impfung überleben werde. Deshalb muss ich die nächsten fünf Jahre weiterhin im Home Office arbeiten und auf Friedhöfen spazieren gehen. Ich habe nun schon Jahreskarten für Botanische und Zoologische Gärten.  

Jetzt reden die alle von der dritten Welle, die NOCH schlimmer wird und die Inzidenz in Berlin steigt erneut rapide; aber du hast mich ja was gefragt: sollst du dich impfen lassen oder nicht? Ich würde - von der allgemeinen Hysterie angesteckt - sagen: ja, aber lieber nicht Astradingens. 

Du bist also in vielerlei Hinsicht zu beneiden: Du hast einen Chef, der sich besser benimmt, als dein Gatte. Du bist eine unschlagbare Telefonistin und Email-Schreiberin. Bin mir sicher, dass deine Adressaten noch nie so geschmeidige Emails erhalten haben. Und dabei siehst du auch noch fantastisch aus! Alles richtig gemacht, meine Liebe!

Bin leider etwas in Eile - daher nur ganz kurz heute.

Küsschen, Küsschen
Deine Annika

Sonntag, 7. März 2021

Ora et labora

 Annika, mein liebstes Herzblatt,

warum hast Du mir nicht gesagt, dass die Zeit, so man drei verschieden Jobs hat, verfliegt wie Quarzsand im Sturm? Dann hätte ich in einem alten Weckglas ein bisschen Zeit eingelagert und würde mir jeden Tag ein Stündchen zusätzlich genehmigen. 

Soll ich Dir von meinem neuen Job berichten? Ich sitze an einem Schreibtisch, vor einem Computer, mit einer Lesebrille auf der Nase, einem Telefonhörer am Ohr und mache etwas, was mir in früheren Jahren den Angstschweiß auf die Stirn getrieben hätte. Ich telefoniere. Mit wildfremden Menschen. Und dabei muss ich eloquent und wissend rüberkommen. Und gleichzeitig ein Computerprogramm verwenden. Und, aber das ist jetzt kein offizieller sondern nur mein eigener, speziell an mich gerichteter Auftrag, dabei auch gut aussehen. Faszinierend. Finde ich. Vor allem, weil ich plötzlich wieder das Gefühl habe, in meinem Kopf lässt sich doch mehr an Zellen nutzen, als ursprünglich gedacht. Sprich, ich halte mich manchmal für schlau. Nein. Wenn ich ehrlich bin, halte ich mich manchmal für sehr, sehr schlau. Das sage ich jetzt nur Dir, ich möchte ja nicht, dass ich in Verruf komme, eine arrogante Schnöseline zu sein. Aber ja, eine gewisse Arroganz schleicht sich in meine Gedanken. Denn wenn ich Emails schreibe, was ich neben den Telefonaten auch hin und wieder tue, dann merke ich, wie leicht es mir fällt und finde mich auch da sofort gut. Ach was. Großartig. Inhaltlich sind die Mails vielleicht nicht das, was man als extrem wichtig bezeichnen würde. Aber ich sage Dir, sie sind wunderbar geschrieben. Von mir. 

Das Beste am Arbeiten ist aber, dass ich vergesse. Ich vergesse, dass ich Kinder habe, einen Hund, noch jede Menge Wäsche im Keller, einen Lump, Heiopei, Tunichtgut oder Halunken. Ich bin einfach nur Ich und arbeite. Natürlich bleibt eine Ahnung im Hinterkopf von all dem, was sonst ist, in meinem Leben. Aber ehrlich? Scheiß drauf. Die alte Frau Schneider hat in der besten Phase ihrer Alzheimererkrankung fröhlich gezwitschert: "Glücklich ist, wer vergisst!"

Recht hat sie. Was für eine Erholung, nicht dauernd das Hirn zu zerbröseln ob all der gewesenen Dinge. Der Schmerzen der vergangenen Monate. Zumindest während ich da sitze, am Schreibtisch. Und für die Leute um mich herum, die durch die Bank 20 Jahre jünger sind als ich, sitze ich als unbeschriebenes Blatt dort. Die wissen nichts von meinen Dramen. Wie angenehm das ist. Es reicht, dass ich nach der Arbeit wieder alles erinnere, was ich vorher mit leichter Hand vergessen hatte. 

Das wiederum ist manchmal unangenehm. Der älteste Sohn hat mir einmal eine professionelle Einführung in das Thema des Vergessens gegeben. Er begegnet täglich Menschen, die ihr Leben vergessen, es hinter sich lassen, ohne sich abends doch wieder an alles, was war, richtig erinnern zu können. Diese Menschen warten dann auf ihre Liebe, ihren Partner, obwohl dieser schon seit 5 Jahren tot ist. "Denen kannste ja nicht jeden Tag sagen, da kannste lange warten, der Eduard ist doch vor 5 Jahren am Herzkasper gestorben!", so sagt er. "Denen musste sagen, der ist mal eben noch einkaufen und kommt später. Dann haben die vergessen, dass sie auf den Ede warten und gut ist. Die regen sich nicht auf und sind nicht jeden Tag aufs neue traurig über Edes Tod." 

Ich erinnere mich also nach der Arbeit. An den großen Schmerz. Oder, wie ich es auch nenne, die große Fettschmelze. Vielleicht genieße ich das Vergessen am Morgen aber auch nur durch das Erinnern am Abend so sehr. 

Was mir durch das Leben jetzt im Vergleich zum Leben vor dem August (es war übrigens der 15. August, das Datum gehört nun zu den wenigen, die ich mir merken kann) klar geworden ist, das sind zwei Dinge. Erstens war es schon vor dem 15. August total beschissen, mein Leben. Irgendwie eingeschlafen. Möglicherweise fast schon tot. Zumindest im Bezug auf die Beziehung zu dem Mann, den ich einmal geheiratet habe. Zweitens ist das Leben jetzt anstrengend aber besser. Ich fühle. Intensiv. Heftig. Massenhaft. Facettenreich. Ich fühle. 

Ich gehe nicht mehr zurück. 

So ist das. Und jetzt beantworte mir mal bitte die Frage, ob ich mich impfen lassen soll. Du weißt ja, ich bin nicht die Allergesündeste, eine Infektion könnte so oder so Folgen haben, für mich weitreichender, aber eine Impfung könnte eben auch eine ziemlich blöde Sache werden. Wie soll man sich denn entscheiden, wenn man die Wahl zwischen Teufel und Beelzebub hat (jetzt denke ich ernsthaft darüber nach, wer von beiden besser aussieht. Der Teufel? Fescher Kurzhaarschnitt, kräftige Oberarme, feste Bauchmuskeln, fünfzehn Zentimeter größer als ich, elegant gekleidet, lässiges Lächeln. Der Beelzebub? Dunkelblondes Haar, leicht gewellt und wuschelig, eher Typ Surfer, Baumwollhosen, gebräunte Haut, muskulös und durchtrainiert, ein ironisches Grinsen. Was ist nur los mit mir? Ich habe doch wohl nicht mehr alle Latten am Zaun. Oder es sind die Hormone. Doch. Es sind die Hormone. Irgendetwas ist da los. Und entfesselt mich, gedanklich. Ich glaube, ich nehme beide. Halt. Stopp. Besser keinen? Von was denke ich denn jetzt? Impfen? Infizieren? Oder attraktive Männer, die ich als Objekte mal schön sexualisieren kann? Bitte hilf mir!).

Tut mir leid, ich kann jetzt nicht weiter schreiben. Ich muss noch Hausaufgabenhilfe machen. Wenn dieses Scheißabitur durch ist, mache ich ein Fässchen auf. Dann lese ich nur noch meine eigenen Texte Korrektur. 

Bis ganz bald, meine liebe Annika, ich hoffe wir sehen uns in nicht allzu weiter Ferne, ob geimpft oder nicht. Wir könnten uns treffen, dann morgens und abends einen Schnelltest durchziehen und uns auf die Suche nach Teufel und Beelzebub einem hübschen Café machen, um unsere Gelüste zu befriedigen unseren Kuchenhunger zu stillen.

Deine Lavendel