Donnerstag, 15. Oktober 2020

Heartbreak Hotel

 Liebste Annika, 

Wie gut mir Deine Worte taten. Es ist so schön, wenn es jemand für mich übernimmt, die beiden Liebeskummerproduzenten ein bisschen zu schmähen. Weil ich das nicht so gut hinbekomme, im Moment. Einfach zu traurig, weißt Du? Betreutes Weinen wäre gar nicht mal so verkehrt. Im Moment kämpfe ich noch. 

Ich weiß zwar nicht so genau, um was ich hier kämpfe, aber ich kämpfe. Seit gestern führe ich sogar meine Fingernägel in die Schlacht. Lackiert in tiefdunklem rotviolett. Eigentlich wollte ich schwarzen Lack nehmen, die Nägel abkauen wie in meiner Kindheit und dann mit ruinierten, abgestoßenen, abgeknabberten schurreschwarzen Nägeln auf mein Elend aufmerksam machen. Aber der tiefdunkel rotviolettfarbene Lack sieht einfach unerhört fesch aus, vor allem, wenn die Nägel etwas länger sind, weswegen ich sie jetzt zum ersten Mal nach der langen Nägelkurzzeit (Mutti hat die Nägel kurz wegen praktisch) wachsen lasse. Damit wirkt meine Hand sehr elegant. 

Und ich sage Dir, eine Kippe würde mich sehr kleiden. Aber schon der Geruch hindert mich daran, mir eine anzuzünden. Manchmal zieht nämlich vom gegenüber liegenden Balkon eine Rauchwolke in meine Kemenate und das ekelt mich. Auf jenem Balkon wird gern geraucht. Der Mann aus der Wohnung im ersten Stock raucht zu jeder Tages- und Nachtzeit auf dem Balkon herum. Bis vor wenigen Wochen leistete ihm dabei seine Frau Gesellschaft. Die ist weg. Und die Klatsch- und Tratschkette förderte zutage, dass sie ihn verlassen hat, weil er zuviel Alkohol und andere Substanzen, unter anderem auch Rauchwaren, konsumierte, was seine Zeugungsfähigkeit auf 10 % Spermienaktivität hinunterschraubte, weshalb er der Holden kein Kind machen konnte, was sie ihm in ihrem ausgeprägten Kinderwunsch sehr übel nahm. 

Ja, andere Leute haben es auch nicht leicht. Und so schaue ich aus meinem Fenster auf seinen Balkon hinunter und fühle mit, wenn ich nicht gerade damit beschäftigt bin, mich zu schlecht zu fühlen, um noch mit irgendwem anders mitfühlen zu können. 

Und mein Haar bleibt dran. Aber ich lasse mir mal zeigen, was ich mit meinem Haar alles anstellen kann. Kurz war ich versucht, es rot zu färben. Nur erinnerte ich mich an meine Mutter, die in den Fuffzigern auch das Haar rot trug und schon war der Plan in der Kanalisation. Dann liebäugelte ich mit schwarz (übrigens alles schon da gewesen, in meinen frühen Zwanzigern), erinnerte mich an die harten Kontraste zu meiner Haut und eigentlich möchte ich zwar nihilistisch aber nicht wie Morticia A. Addams (geborene Frump) aussehen. Darum bleibt mein Haar, wie es ist, dunkelblond oder hellbraun oder köterig, mit aparten grauen und fast weißen Strähnen. Und mehr als schulterlang. Es lässt sich hübsch hochdrapieren, seitlich eindrehen, messiknödeln. Glück hat, wer eine Tochter mit Leidenschaft für Frisurentutorials hat. 

Weißt Du, jeden Morgen werde ich wach und denke, ich kann nicht aufstehen. Ich muss jetzt für immer liegen bleiben und dabei verdursten und verhungern und dann hat das Elend ein Ende. Und dann fällt mir ein, ich muss noch mit dem Hund raus (jetzt habe ich leider Angstanfälle, wenn mir im Wald blonde Hunde begegnen, danke dafür, du beschissener Scheißbeißhund!), ich muss noch zur Arbeit, ich muss noch Sport mit einer 91 Jahre alten Dame machen, die es zutiefst bedauert, wegen Corona nicht mehr Tennis spielen zu können und darum mit mir Gymnastik macht, ich habe keine Zeit, liegen zu bleiben. Dann quäle ich mich aus dem Bett und setze einen Fuß vor den anderen, putze meine Zähne, wurschtel mein Haar zusammen und dann arbeite ich eins nach dem anderen ab. Immer kurz davor, mich wieder hinzulegen. Aber dann doch nicht. 

Und wenn es sehr arg ist, dann werde ich extrem lyrisch, schreibe traurige Gedichte in mein trauriges Notizbuch, das ich im Moment stets bei mir trage, falls ich etwas Trauriges notieren möchte.


Und dieses ganze Geschwurbel der Gefühle, dieses Geschisse des Herzens, diese gottverfluchte, elende Ehe- und Beziehungsscheißkrise hat gestern dazu geführt, dass ich mir drei Gläser Weißwein reingeschüttet habe. Ich. Die nie trinkt. Die ein einziges Mal in ihrem Leben, und zwar mit 16, betrunken war. Drei Gläser Weißwein. Muss ich mehr erklären? Es war eine Erfahrung. Und sie wird sich frühestens in 35 Jahren wiederholen. Da bin ich 86, der Mann, den ich geheiratet hatte, dürfte der statistischen Wahrscheinlichkeit und seines Blutdrucks nach bereits den Löffel abgegeben haben und ich hocke fein im Sessel und gönne mir noch einmal einen Rausch. Dann ist nämlich eh alles wurscht. 

Oder mein Löffel wurde auch schon weitergereicht. 

Auf jeden Fall ist Saufen nicht mein Metier.

Kannst Du mir bitte schwören, dass ich irgendwann nicht mehr so traurig bin? Dass auch aus meinem Hintern irgendwann wieder die Sonne scheint? Schwöre es mir. So, dass ich es glaube. Ich flehe Dich an.

Deine Juliette


4 Kommentare:

  1. Liebe Lavendel, deine/ eure Art der Unterhaltung ist so unglaublich eloquent, herzlich, voller Witz und dennoch Tiefgang, dass ich hier jedes Mal mit einem wohligen Seufzer lese und fühle. Nun gibt es diesen Ungemach, der mir schier das Herz bluten lässt ... so ungerecht, so scheinbar ansatzlos, so bäh einfach. Aber es gibt Hoffnung auf ent-trauriisieren, denn du hast schon oft etwas Großes vollbracht. Erinnere dich, in dir steckt alles, was du brauchst:
    „... Was soll ich sagen. Ich habe diesen Test so gut gemacht, ich glaube sogar, niemand hat bisher diesen Test so gut geschafft. Ich war einfach phantastisch. .... ich habe einen wirklich guten Job gemacht....“
    Ich glaub an deine Kräfte und würde dich bedenkenlos in meine Mannschaft wählen - du wärest auf der Pole-Position im Testballon über (d)einer neuen Gestaltungswelt.
    Es wird besser - sagt die Brotbüchsenfee

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    1. Ach, das hatte ich ganz vergessen, dass ich den Test so gut gemacht habe. Vermutlich bin ich auch diejenige, die am Besten Liebeskummer kann. Niemand kann es so, wie ich es kann. Ich bin ein stabiles Liebeskummergenie. Genau. Was auch sonst.

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  2. Puh, jetzt melde ich mich doch. Wollte ich eigentlich nicht. Ungebetene Ratschläge zu geben ist nicht so mein Ding. Jedenfalls kann ich sagen, ich weiss worum es geht und wie es sich anfühlt.
    OK. Du hast erkannt: wenn Kippen keine Lösung sind, dann ist es der Alkohol erst recht nicht. Das ist schon mal gut. Was hab ich gemacht? Ich habe mich fit gemacht. Mit dem Couchpotatogen geboren, keine einfache Sache für mich. Ich kann nur raten, gib deinem Körper was Gutes zu essen, trainiere deine Muskeln, damit du leicht und mühelos aufrecht stehen kannst. Hebe den Kopf, zeige deine Kehle, verbreitere deinen Stand, trete fest auf und stemme die Hände in die Hüften. Kräftige Muskeln helfen dabei. Du wirst staunen, was dann alles passiert. Mit oder ohne den Kerl.

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    1. Der Körper mag nicht essen, aber er mag viel Bewegung. Sehr viel Bewegung. Gern an der frischen Luft.
      Danke für den ungebeten Rat. Ich mag ihn.

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