Donnerstag, 3. Dezember 2020

Ja, das dauert noch, bis ich mich auf anderes konzentrieren kann

Liebste Annika,

wieviel Wahnsinn verträgt man? Und Mann? 

Du musst mich doch hassen, sagt er dauernd. Und ich google immer wieder die Brotspinne und denke, ich habe sie gefunden, auch wenn er behauptet, sie ist es nicht. Ich glaube sehr wohl, sie ist es.

Ach, egal. 

Soll ich Dir mal was sagen? Diese ganze Herzschmerzscheiße geht mir maximal auf den Zwirn. Ewig heulen, das ist doch sinnlos. Ich habe mir jetzt ein paar Kleidchen gekauft, weil ich seit neuestem meine Beine zeigen möchte, die sind nämlich rank und schlank wie vor der Speckexplosion, die verursacht wurde durch drei Schwangerschaften. Also Kleidchen und Röckchen, die nicht mehr bis zum Knöchel gehen sondern über dem Knie enden. ÜBER, verstehst Du? So wagemutig war ich lange nicht. Ich war shoppen mit meinem Wolkenköpfchen. Und die wollte mit in die Umkleide. Da ist sie fast vom Glauben abgefallen, weil mir nichts mehr passt, nicht einmal meine neuen Unterhosen. Die schlabbern um mich herum. Und die neuen Büstenhalter ebenfalls. Sie ist überzeugt, dass ich eine Essstörung habe (nicht ganz von der Hand zu weisen) und versucht jetzt, mich zu füttern. Damit ich nicht verhungere. Mein Argument, dass ich beim BMI noch im Normbereich bin, ist ihr komplett egal. Sie will, dass ich wieder ihre weiche, warme, bequemliche, schwere Mutter bin. Dieses etwas knochige Unglücksgespenst ist ihr gar nicht geheuer. Mir ja auch nicht. Ich verstehe durchaus, dass sie mit Macarons hinter mir herläuft und sie mir in den Mund stecken will. 

Diese Veränderung ist auch sehr erstaunlich. Leute, die mich nicht so gut kennen, erkennen mich nicht. Heute habe ich mir das Kinderauto ausgeliehen, weil meins in der Werkstatt war. Und als ich das Kind von der Arbeit abholte, grüßten mich seine Kollegen mit einem knappen Nicken. Bis sie merkten, wen ich abholte, mich noch einmal genauer anschauten und dann in laute Entschuldigungstiraden ausbrachen, weil sie mich einfach nicht erkannt hatten. Wie ich da so stand. In schwarzen Strumpfhosen, schwarzen Stiefeln, grauem kurzem Rock, anthrazitfarbenem Mantel, geflochtenem und hochgestecktem Haar (es fehlt nur die Kippe im Mundwinkel). 

Und in der Werkstatt drehte der Meister anschließend eine Probefahrt mit mir in meinem frisch reparierten Auto, um mich zu fragen, was mit mir los ist, warum ich so verändert bin, er hätte da gehört blablablatrallallalla und wenn nicht Winter und Corona wäre, würde er mich auf ein Eis einladen. Und ich würde das sogar annehmen, auf jeden Fall, auch wenn er so gar nicht mein Fall ist. Aber bitte. Mit Anfang fünfzig nimmt man, was man kriegt. 

Bei Tinder hatte ich mich auch angemeldet. Als ich gleich am nächsten Tag zwei Nachrichten von Männern hatte, von Männern, ich bitte Dich, von zwei Männern, Typen der Gattung, die Frauen nach 33 Jahren wegen einer Tussi belügen, betrügen, verarschen, die Brotspinne heißt und vor 33 Jahren noch nicht einmal auf der Welt war, warte... wo war ich? Ach ja, Tinder. Ja. Habe ich gelöscht. Vor Schreck. Ich meine, was schreibt man da? Keine Ahnung. 

Du, Horst, 57, aus dem wenige Kilometer entfernten Kuhkaff nebenan, siehst leider so erbärmlich aus wie ich mich fühle. Kannste nicht machen. Stefan, 52, du könntest mich interessieren, bist aber gottesfürchtig und da fürchte ich mich auch. Darum bekommst du heute von mir kein Dingsda. Und schon gar nicht ein Superlike. Niemals nach oben wischen, hat mir das Wolkenköpfchen gesagt. Superlikes behält man besser für sich. Wobei das Wischen schon witzig war. Ein Männerkatalog. Ein Ottokatalog. So viele Ottos. Wieviele von denen wohl schon belogen und betrogen haben? 

Ich schwimme und schwimme und schwimme durch die Tage. Versuche, den Kopf irgendwie über der Wasseroberfläche zu halten. Mache merkwürdige Dinge. Buche Reisen. Kaufe ständige Sachen. Kriege Lachanfälle. Und ich weine. Und weine. Wegen allem. Wegen der vergangenen Jahre, die echt beschissen waren. In so vieler Hinsicht. Wegen dieser Ehe. Wegen all der Zeit. Weine, weil ich mir so sehr wünsche, dass mich dieser Mann liebt. Weil ich eine Frau bin, die liebenswert ist. Und er tut es nicht. Ob ich jetzt im engen Kleid da stehe oder in der Jogginghose. Es macht keinen Unterschied. Ob 80 Kilo oder 60. Ob mit Wimperntusche oder ohne. Rote Lippen, blasse Lippen. Es ist egal. Ich schwimme. Und wenn ich auf den Strudel zuhalte, den Strudel der Verzweiflung, der mir ins Ohr schwappt und im Kopf und im Herzen immer weiter kreiselt, immer herum um den Gedanken EndeausMickeyMaus, Ausundvorbei, Erledigt und wie sie sonst alle heißen, dann versuche ich mir eine Rettungsweste aufzupusten. Damit ich nicht untergehe. 

Es ist natürlich schon cool, dass ich dauernd von allen Seiten höre, wie toll ich aussehe. Wie faszinierend das ist, dass ich so vital wirke. Wieviel Energie ich doch habe. Mit all den Komplimenten puste ich die Rettungsweste so prall auf, dass es eng wird, da drin. Aber mal ganz ehrlich, ich bin einfach so abartig traurig. Es ist eigentlich nicht auszuhalten. Das alles ist nur Kosmetik. Ich will das elende Häuflein, das ich innen bin, nicht auch noch im Außen darstellen. Dann lieber fesch. 

Und weißt Du, was noch? Mein Körper, dieses Miststück, macht mit 51 Jahren immer noch einen auf "Hach, ich bin so fruchtbar!". Ich erkläre meiner Gebärmutter, hör zu, das hier ist eine schlimme Krise und es würde mir entgegenkommen, wenn Du Dich mal entspannst und durchlockerst. Den Eierstöcken sage ich, Mädels, ihr könnt euch zurückziehen. Kommt eh nix sinnvolles mehr bei eurer Produktion rum. Den Hormonen sage ich, bitte alle mal beruhigen und einen Gang zurückschalten. Aber das ganze Pack pellt sich ein Ei drauf und veranstaltet ein Happy Feuerwerk an Fruchtbarkeitsreminiszenzen. Weshalb ich ständig zwischen Liebeskummer, PMS und klimakterischen Anfällen hin und her rutsche. Das hält doch niemand aus. 

Und dann ist da noch die Sache mit dem Haus. Und die Sache mit allem. Und ich müsste... und müsste... und dürfte ihm nicht trauen... und überhaupt. Aber weißt Du was? Ich kann gerade nicht. Ich bin viel zu sehr damit befasst, nicht abzusaufen. Ist vielleicht deppert. Aber es geht nicht. Jetzt nicht. Morgen möglicherweise. Oder nächsten Montag. 

Wann auch immer. 

Die liebsten Grüße aus Hell-City, Deine halbirre 

Lavendel

4 Kommentare:

  1. Der muss da weg! Schnell. Und wenn Du was googlest, dann erzählst Du ihm das nicht. Und Du heulst nicht vor dem. Das ist nicht mehr Dein Freund. Ach, und das Haus nicht vergessen. Und dann verkaufen und einen Neustart für Dich wagen.

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  2. "Und wenn Du was googlest, dann erzählst Du ihm das nicht."

    Das, liebe Lavendel, ist echt wichtig.

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